Allgemein Alltags-Notizen

Wir müssen die Gesellschaft reparieren

10. November 2021

Gegen Mittag gestern diskutieren sie die 2G-Regelung in einer Sendung von WDR5. Was ich so nebenbei höre, sind die meisten dafür. Twitter explodiert nahezu jeden Tag, weil zunehmend die Krankenhäuser überlaufen. Bodo Ramelow schreibt einen interessanten Beitrag zur Situation, gleichwohl beschreibt er einen beklagenswerten Zustand der deutschen Demokratie. Ein neuer Morgen: Die Inzidenzzahlen explodieren. Die Ampelkoalition diskutiert in aller Ruhe und Zurückgezogenheit ihre Agenda. Die geschäftsführende Regierung sagt nichts mehr. Die Betten der Intensivstationen sind komplett mit nichtgeimpften Menschen belegt. Kinder und Jugendliche baden den Rest aus. Die Inzidenzen in den jüngeren Altersgruppen explodieren in ungeahnte Höhen. Die NRW-Schulministerin Gebauer ermahnt die Schulen, nicht auf die Schülerinnen einzuwirken, weiterhin die Masken zu verwenden.

Meine Meinung: Wir brauchen eine Impfpflicht. Sofort.

Mein aktueller Gemütszustand: Die demokratische Gesellschaft ist kaputt. Wir müssen sie reparieren.

Nach meinem Verständnis hat das sehr viele Gründe. Und es hat einige Jahrzehnte gedauert. Mein Versuch der Erklärung: Wir haben zu lange den Begriff der individuellen Freiheit falsch diskutiert. Und die Politik hat jahrzehntelang dazu beigetragen. Es gibt viele Widersprüche. Heute, im Angesicht einer aktuellen Pandemie, vor der uns Forscher seit mehr als zehn Jahren warnen, und einer noch viel bedrohenderen Klimakatastrophe, steht die Politik auf der Probe. Eine Situation, die sie lange nicht üben konnte. Meine Erinnerung, ich bin derzeit 58 Jahre, ist die einer Bedrohung und Eskalation der militärischen Auseinandersetzung zwischen den dem Westen und dem Osten. Die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Deutschland hat die größte Demonstration hier initiiert. Mehrere hunderttausend Menschen demonstrierten friedlich in Bonn.

Die folgenden Jahrzehnte war Deutschland mit Wachstum und Wohlstand beschäftigt. Natürlich gab es immer wieder Herausforderungen, Arbeitslosigkeit etwa, Terrorangriffe, Gewalt und Entführungen. Gleichzeitig entfremdete sich die Politik von der Gesellschaft. Man bat um Stimmabgabe, und werkelte seither ohne Transparenz vor sich hin. Die Medien waren Gatekeeper, das war aber auch nicht so schwer.

Bis dann irgendwann das Internet kam. Und die zunehmende Transparenz. Und die immer mehr sichtbarere Schere zwischen Arm und Reich. Die Bankenkrise war zu meistern, eine Systemkrise auch der europäischen Staaten, die die notwendigen Reformprozesse noch nicht wirksam genug begonnen hatte. Wer rettet Griechenland? Die zunächst so benannte Klimakrise war schon im Anflug. Und interessierte niemanden.

Was in dieser Zeit nie diskutiert wurde, war das gesellschaftliche Selbstverständnis, und die damit einhergehende Solidarität. Einmal, weil sie nie auffiel, oder nie herausgefordert wurde. Bis heute zahlt jeder in einem normalen Beschäftigungsverhältnis in die Rentenkasse, die ein solidarisches Generationenprojekt ist. Nahezu jeder von ihnen zahlt auch Steuern. Das ist das Geld, das die Verwaltung verwendet, die Gesamtheit der Gesellschaft zu organisieren. Das bezweifelt niemand. Beim Beitrag für Funk und Fernsehen grummelt es schon mal, ja, ja, die Öffis. Die meisten zahlen. Alles gut. Seit Jahren haben wir eine Masern-Impfpflicht. Bis auf sehr wenige Ultra-Esoteriker wird es von niemandem diskutiert. Läuft.

Wie kann es aber sein, dass genau die Impfpflicht für eine sehr viel größere Bedrohung wie Covid von einer nur kleinen Minderheit dafür sorgt, dass die Politik in die Knie geht? Die Medien, my dear, haben ordentlich daran mitgewirkt, aus eigenem Profitinteresse, ihnen den gleichen Raum wie der Wissenschaft zu geben. Ernsthaft? Jep!

Charles Waldorf hat dazu ebenfalls einen interessanten Twitter-Thread geschrieben, den ich leider voll unterschreiben kann.

Was die Politik sich seit der Pandemie nicht mehr zutraut, ist die klare Ansage an die Gesellschaft. Der überhandnehmende Hedonismus und die „Freiheit“ der letzten Jahrzehnte, die gleichzeitig immer dafür gesorgt hat, dass man mehr oder weniger leise vor sich hin regieren konnte, hat der Politik die Auseinandersetzungsfähigkeit mit den Bürger:innen genommen. Man möchte einfach weiterhin mit vielen Floskeln gewählt werden.

Was wir nie diskutiert haben: Dass die Summe der individuellen Freiheiten der Gesellschaft und auch der gesamten Menschheit schadet.

Was wir nicht gesehen haben: Dass wir dem Planeten mehr entnehmen, als er uns gibt. Der Planet kollabiert. Das war zu viel. Was wir finden müssen, ist das Maß der Mitte. Wir nehmen und geben zurück, damit wir gemeinsam leben können.

In dieser „guten“ Zeit haben wir viel versäumt und verbaselt: Bessere Bildung, eine nachhaltige Infrastruktur, eine bessere Gesundheitsversorgung; es wurde viel Schaum geschlagen. Was bisher nie gefördert wurde: Die politische Auseinandersetzung im eigenen Ort, das Funktionieren der Demokratie in den unterschiedlichen Ebenen, das Mitwirken.

Gleichwohl gilt aber noch immer und hoffentlich für immer das demokratische Prinzip. Das Volk wählt eine Regierung, die die Belange der Gesellschaft regeln und steuern soll. Die Bürger:innen geben der Politik das Mandat. Und dies gilt auch und ganz besonders für bedrohliche Situationen: etwa einer Pandemie. Die Politik muss sich also dem Risiko aussetzen, zunächst „unliebsame“ Entscheidungen zu treffen, um Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Was spricht also gegen eine Impfpflicht? Nach meiner derzeitigen Datenlage: Nix! Hat übrigens bei Masern auch geholfen. Das Nichthandeln der Politik in den letzten anderthalb bis zwei Jahren ist somit nicht nachvollziehbar. Weil sie vielleicht nicht mehr gewählt werden können? Das glaube ich nicht. Die Ehrlichkeit und Authentizität der Politik ist aufgrund des eigenen Missverschuldens zu sehr in Verruf geraten; mit mehr Transparenz muss dies dringend repariert werden. Das Werkzeug heißt Kommunikation, die Haltung gebietet Offenheit.

Die Pandemie ist nur ein Vorbote für das, was uns noch bevor steht. Wir müssen eine Reihe von Entscheidungen treffen, die nichts weniger zur Folge haben, als in letzter Minute den Planeten, auf dem wir leben, für weitere Generationen zu erhalten. Das ist mittlerweile verfassungsrechtlich entschieden. Warum haben wir, wie ich oben beschrieb, Freiheit falsch diskutiert? Weil es immer nur die Freiheit für die Konsumentscheidung jedes Einzelnen ging, niemals aber um die Freiheit einer Gesellschaft in Frieden und genau dieser Freiheit, die allerwichtigsten Güter des menschlichen Lebens.

Und, nun?

cdv!

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